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Leseprobe

Margarete Lamsbach, Das Blinzeln der Venus 


Die interplanetare Raumflotte

Das silberzarte Läuten eines Glöckchens drang an Florians Ohr. Das klang so wunderschön, dass er eine Weile still in sich hineinhorchte. Woher dieser schöne Klang wohl kam?

Langsam öffnete er seine Augen.

Auf der Fensterbank saß ein Mädchen, das ihn schon eine Weile beobachtet haben musste.

Ihre Kleidung bestand aus einem rosaglitzernden Anzug, auf dem vorne ein silbernes Herz leuchtete. Von ihren Schultern fiel ein Umhang aus weinrotem Samt herab. Sie hatte lange knallorangene Haare, aus denen sie dicke Zöpfe geflochten hatte. Die standen wie übergroße Insektenfühler lustig vom Kopf ab.

Sie war sehr hübsch und Florian hatte das Gefühl, sie schon lange zu kennen.

Das Herzmädchen neigte seinen Kopf und Florian erkannte, woher das wohlklingende Läuten kam.

Die Besucherin hatte Ohrringe aus kleinen silbernen Glöckchen an den Ohren. Bei jeder ihrer Bewegungen ließen die Glöckchen einen hellen zarten Klang frei, der durch den Raum schwebte und Florian glücklich machte.

Mit offenem Mund saß er staunend im Bett.

Plötzlich wusste er, woher er sie kannte. Sie sah genauso aus wie Marie aus seiner Klasse.

Marie mochte er besonders. Schon oft hatte er daran gedacht, sie einmal anzusprechen. Aber ihm fehlte der Mut.

Doch heute war alles anders. Sie saß auf seiner Fensterbank in seinem Zimmer. „Marie?“, fragte er vorsichtig.

„Marie?“, erwiderte das Herzmädchen spöttisch. „Nein, ich bin Arabella, aber du kannst mich Bella nennen.“

Florian war es etwas peinlich, dass er Bella mit Marie verwechselt hatte, obwohl er schon fand, dass sich die beiden sehr ähnlich sahen. Gut, die Frisur von Marie war nicht so auffällig wie die von Bella. Marie trug einen Pferdeschwanz, der fröhlich hin und her wippte, wenn sie lief. Aber ihre Haare waren genauso leuchtend orange wie die von Bella.

„Wie kommst du hier herein?“, fragte Florian.

„Durchs Fenster“, antwortete Bella.

Florian hätte gerne gewusst, wie man von außen durch ein verschlossenes Fenster hereinkommen konnte. Aber besonders auskunftsfreudig schien seine Besucherin nicht zu sein.

Nach einer Weile sagte sie: „Bevor wir hier beide noch einschlafen, würde ich sagen, du ziehst dir mal was an und dann brechen wir auf.“

Gehorsam kletterte Florian aus seinem Bett und zog sich Jeans und Pullover über den Schlafanzug.

Während er das tat, dachte er fieberhaft darüber nach, wohin sie mit ihm gehen wollte. Schließlich war es mitten in der Nacht. Aber Bella hatte etwas Einschüchterndes und wieder traute er sich nicht nachzufragen.

Bella trat zur Seite und gab Florian den Blick durchs Fenster frei. Eine leuchtende Kugel schwebte hoch oben in der Luft. Sie hatte Fenster und auf der silbernen Hülle stand: „Venus 3“ und „Interplanetare Raumflotte“. Ein Raumschiff von der Venus!

Bella pfiff durch ihre Finger und das Raumschiff drehte sich einige Male um die eigene Achse, bevor es seinen endgültigen Standort einnahm. 

Florian starrte fasziniert auf geschätzt zehn dünne Beine mit blau-weiß geringelten Socken, die völlig unabhängig voneinander in verschiedene Richtungen rannten.

Man kann sich vorstellen, dass das nicht lange gutgehen konnte. Irgendwann würde die Venus 3 abstürzen. 

Doch wider Erwarten gelang es dem Raumschiff, in der Luft zu bleiben. Trotz seines jugendlichen Auftretens schien es ein sehr erfahrenes Raumschiff zu sein.

Zwei riesengroße Scheinwerfer blendeten jetzt auf und warfen eine breite Lichtbahn durch das Fenster in Florians Zimmer. Bella nahm Florians Hand und zog ihn mit sich fort.

Das Fenster bot keinen Widerstand und er wusste jetzt, wie Bella in sein Zimmer gekommen war, obwohl das Fenster fest verschlossen war.

Gemeinsam gingen sie über die Lichtbahn zum Raumschiff. Die Wolken hatten sich verzogen und über sich sah Florian Millionen von Sternen. „Opa“, dachte er glücklich. Ich komme.“

Bella und Florian liefen gemeinsam auf dem Lichtstrahl zum Raumschiff.

Als sie näher kamen, tauchten zwei behandschuhte Hände quasi aus dem Nichts auf und öffneten eine Tür. Bella und Florian betraten die Venus 3.

Die Tür schloss sich hinter ihnen und Florian schaute sich interessiert um. Offensichtlich gab es keine Besatzung – weder Menschen noch Außerirdische.

„Fliegst du das Raumschiff?“, fragte er Bella.

Bella sah ihn erstaunt an. „Nö, warum sollte ich?“

„Aber irgendjemand muss uns doch zur Venus fliegen.“

„Dazu ist ein Raumschiff ja schließlich da. Wir machen es uns jetzt erst mal gemütlich“, sagte Bella.

„Aber Raumschiffe haben immer Kommandanten, die den Kurs bestimmen und Ingenieure, die sich um die Technik kümmern und…“

„Kann schon sein, dass eure Raumschiffe nur auf Kommando fliegen“, erwiderte Bella, „aber dann sind das keine echten Raumschiffe. Alle Raumschiffe der interplanetaren Flotte sind magische Flugobjekte und entscheiden selbst, ob sie fliegen, wann sie fliegen und wohin sie fliegen.“

Florian war verunsichert. „Ich würde gerne meinen Opa wiedersehen. Ich glaube, der wartet auf der Venus auf mich. Kann man denn die Venus 3 bitten, uns zu ihm zu bringen?“

„Das ist gar nicht nötig. Die Venus 3 kennt deinen Herzenswunsch und ist gekommen, um ihn zu erfüllen. Unsere Raumschiffe erspüren die Träume der Kinder. Dazu wurden sie schließlich gebaut.“

„Fliegst du immer bei solchen Einsätzen mit?“, staunte Florian.

„Nein, ich habe dich ganz bewusst ausgewählt. Ich kann immer nur dann mitfliegen, wenn ein Kind und ich dasselbe Ziel haben. Stell dir mal vor, mein Sehnsuchtsort wäre nicht derselbe wie deiner? Dann würde die Venus 3 ja auseinanderbrechen. Nein, dein Opa hat mich gebeten, dich zu holen. Er meinte, vielleicht könnten wir Freunde werden. Du bräuchtest nämlich dringend Freunde, weil er ja jetzt nicht mehr bei dir ist. Da hab ich gedacht, ich fahr mal mit und lern dich kennen. Denn man muss jemanden kennen, um sein Freund zu sein, oder?“

Florian nickte. Da er an seiner neuen Schule noch keine Freunde finden konnte, war er dankbar für Bellas Begleitung. „Find ich gut, dass wir die Reise zusammen machen“, sagte er.

„Komm, wir suchen uns mal ein gemütliches Plätzchen.“ Bella zog ihn zu einem riesigen Sofa.

Florian staunte nicht schlecht. Wo kam das Sofa so plötzlich her?

Er schaute genauer hin. Das Sofa leuchtete in einem warmen Sonnengelb. Die Rückenlehne war gestreift. Es sah knuffig aus. Darauf zu sitzen würde bestimmt Spaß machen.

„Kein Problem“, sagte Bella zu ihm. „Auf diesem Sofa machen wir es uns während der Fahrt bequem. Apropos: Welche Farbe hat das Sofa?“

Seine Begleiterin schien farbenblind zu sein.

„Na gelb natürlich.“

Bella kicherte. „So natürlich ist das nicht. Das Sofa nimmt immer die Farben an, die man sich wünscht. Deshalb sieht es für jeden anders aus.“

„Wie sieht es denn für dich aus?“, wollte Florian wissen.

„Blau-weiß“.

„Und weißt du, warum es für Dich blau-weiß aussieht?“

„Klar. Ich liebe den Blick von der Venus auf deine Erde. Von oben sieht man die blauen Ozeane und darüber die weißen Wolken. Zeig ich dir später, wenn wir angekommen sind.“

Bella grinste: “Da staunst du, was?“ Sie warf sich mit Schwung rückwärts auf das Sofa und wippte ein paarmal auf und ab.

Florian setzte sich vorsichtig neben sie. Aber was war das? Er hielt die Luft an. Tatsächlich, das Sofa atmete wie ein lebendiges Wesen. „Es atmet“, flüsterte Florian.

Bella sah ihn mitleidig von der Seite an. „Natürlich atmet es. Es ist ja lebendig oder meinst du, ich würde mich auf ein totes Sofa setzen?“

Florian hatte noch nie auf einem atmenden Sofa gesessen, aber die Erklärung von Bella fand er total einleuchtend. Es war bestimmt angenehmer, auf einem lebendigen Sofa zu sitzen.

 Florian lehnte sich zufrieden zurück und fragte Bella, wie lange sie zur Venus unterwegs sein würden. Zwischen Erde und Venus lagen immerhin etliche Millionen Kilometer. Deshalb hatten es ja bislang weder die Amerikaner noch die Russen geschafft, von der Erde aus die Venus zu besiedeln. Wie alt würden sie sein, wenn sie oben ankämen?

„Mach dir keine Sorgen“, hörte er Bella neben sich sagen. „Der Flug dauert nur einen großen Gedanken lang. Dann sind wir schon da.“ 

Florian sah Bella erstaunt an. Sie konnte seine Gedanken hören! 

„Natürlich kann ich Gedanken lesen. Wie sollte ich mich sonst mit einem Marsianer oder Uranier verständigen? Die vielen Sprachen im Weltall kann ja keiner lernen!“

Praktisch dachte Florian.

Nach dem Umzug hatte er ziemliche Probleme im Fach Mathematik. Das hing damit zusammen, dass die neue Klasse im Mathe-Buch viel weiter war als seine Klasse in der alten Schule und er eine Menge nachholen musste. Sein Kopf wollte das ganze fehlende Wissen einfach nicht aufnehmen.

In den Klassenarbeiten könnte es ihm sicher helfen, wenn er in den Gedanken des Mathelehrers lesen würde wie in einem Buch. Darüber wollte er später noch einmal in Ruhe mit Bella sprechen.

„So, genug geschwätzt“, ordnete Bella an. „Augen zu und an deinen Herzenswunsch denken.“

Florian schloss die Augen. Das Sofa begann leise zu schnurren.